Die französische Februar-Revolution von 1848 überraschte die ganze Welt. Bekanntlich wurde am 24. Februar 1848 nach kurzen, heftigen Barrikadenkämpfen in Paris der französische König zur Abdankung und zur Flucht gezwungen. Die Republik wurde ausgerufen. Die Nachricht vom gelungenen Aufstand in Frankreich setzte die Revolution in Deutschland und in anderen europäischen Ländern in Gang.
Der Rechtsanwalt Hugo Wesendonck, in der Revolution einer der bedeutendsten Düsseldorfer Demokraten und Politiker, beschrieb in seinen späteren Erinnerungen – sie erschienen 1898 in New York – anschaulich die Reaktion im Rheinland auf die sensationellen Nachrichten aus Paris:
„Der Sturz des [französischen] Bürgerkönigs [kam] wie ein Blitz aus heiterer Luft. In der Rheinprovinz rieb man sich die Augen wie im halben Schlaf, und obwohl schon ein paar Jahre lang bei den Provincial-Landtagen für Press[e]-, Versammlungs- und andere Freiheiten agitirt worden war, so dachte doch niemand an eine Volks-Erhebung. Auch nachdem die Republik in Frankreich erklärt worden war, beschränkte man sich darauf, in Wirthschaften auf Tischen und Bänken die Nachrichten aus Frankreich laut zu verlesen und dann seinen Frühschoppen zu trinken. Aber man meinte doch, es müsse etwas geschehen, und zwei oder drei Düsseldorfer, unter ihnen der Verfasser, gingen nach Cöln, in die Metropole. Franz Raveaux, der Carnevals-Präsident, war dort der Mann. Aber er wollte von nichts wissen. ‘Die Leute wollen keine Revolution’, sagte er mit seiner heiseren Grabesstimme. Doch verstand er sich dazu, einen Petitions-Sturm vom Stapel laufen zu lassen, und die ganze Rheinprovinz that desgleichen.“
Ob der Kölner Kaufmann und Demokrat Franz Raveaux tatsächlich eine solch herausragende Bedeutung bei der Initiierung der ersten rheinischen Petitionsbewegung zukam, muß offen bleiben. Zutreffend schildert Wesendonck die ersten Reaktionen auf die französische Revolution im Rheinland. In Süddeutschland kam es bereits Ende Februar zu großen öffentlichen Volksversammlungen mit tausenden von Teilnehmern. Insbesondere die Mannheimer Volksversammlung vom 27. Februar setzte ein Fanal. Die dort beschlossenen vier Forderungen – Volksbewaffnung, Pressefreiheit, Schwurgerichte und ein deutsches Nationalparlament – entfalteten als „Märzforderungen“ eine enorme Wirkung. Demgegenüber fanden im Rheinland zunächst keine öffentlichen Aktionen statt. Vielmehr blieb hier die ‘Bewegung’ auf „vielfache Beratungen teils von Bürgern und teils von Arbeitern“ beschränkt, wie Heinrich Merkens, ein großer Kölner Unternehmer, notierte.
Zu dieser Zurückhaltung im Rheinland trug bei, daß der Jubel über die französische Februarrevolution von Anfang an keineswegs ungetrübt war. Man glaubte sich – wie wir heute wissen zu Unrecht – unmittelbar vom republikanischen Frankreich bedroht. So gehörte für Gustav Mevissen, wie er seiner Schwester schrieb, „mehr wie Glück“ dazu, „wenn ein europäischer Krieg vermieden werden“ könne. Zugleich hatte man vor allem in den bürgerlichen Schichten Angst vor dem Ausbruch sozialer Unruhen. Die Sorge war, um Gustav Mevissen noch einmal zu zitieren, ob die politische Bewegung „innerhalb vernünftiger Schranken zu halten“ sein würde. Doch trotz aller dieser Befürchtungen war man sich weitgehend einig, daß sich „das alte Europa“ anschicken werde, „sich von Grund aus zu verjüngen“, wie die „Trierische Zeitung“ schrieb.
Interessant an Wesendoncks Erinnerung ist vor allem seine Schilderung der Reaktion Raveaux’. Franz Raveaux, in den frühen 1830er Jahren in Spanien auf liberaler Seite gekämpft, dann durch Kommissionsgeschäfte in Tabak und Immobiliengeschäfte zu raschem Wohlstand gelangt, Mitbegründer der „Allgemeinen Karnevalsgesellschaft“ in Köln, war bereits vor 1848 eine der populärsten demokratischen Persönlichkeiten Kölns. In der Revolution von 1848 wurde er zum Vertreter der Stadt Köln ins Vorparlament und dann in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Im September 1848 ging er als Gesandter der Provisorischen Zentralgewalt in die Schweiz. 1849 mußte er emigrieren und wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er starb in Belgien am 13. September 1851, einige Monate nach seiner in Köln von den preußischen Behörden inszenierten symbolischen Hinrichtung. Raveaux’ Ablehnung einer „Revolution“ im Sinne einer „Volks-Erhebung“ kommt dem eingebürgerten Bild der rheinischen Revolution von 1848 als einer relativ gemäßigten und zunächst fast allein vom Bürgertum getragenen Verfassungsbewegung entgegen.
Es hat lange gedauert, bis die Revolution von 1848 in eine Geschichte der Freiheit eingebettet wurde. Bis in die jüngste Zeit bevorzugte man jedoch auch in dieser Geschichte der Freiheit die Parlamente vor den Barrikaden, die Gemäßigten vor den Radikalen, die bürgerliche Verfassungsbewegung vor den unterbürgerlichen Sozialbewegungen. Die liberalen Geschichtsschreiber – beispielsweise in Gestalt des Kölner Archivars Josef Hansen – und die katholischen Geschichtsschreiber – in Gestalt Karl Bachems – hoben vor allem auf die Besonnenheit ihrer jeweiligen Protagonisten ab. Zwischen den uneinsichtigen „Regierenden“ einerseits und den anarchischen „Bewegungen“ andererseits wirkten ihrer Meinung nach das liberale Bürgertum und die Katholiken als mäßigende Kräfte.
1882 bedauerte der rheinische Katholik, Politiker und Jurist Peter Reichensperger in seinen Erinnerungen die „auffallend stiefmütterliche Behandlung“ der Ereignisse von 1848. Er forderte damals, die Revolution als „eine der bedeutungsvollsten und ... lehrreichsten Erscheinungen der neueren Geschichte“ zu würdigen. Damit stand er weitgehend allein. In der preußischen Monarchie erscholl 1848 der erste Ruf nach politischer Neugestaltung in der Rheinprovinz. Reichensperger wollte 1882 hervorgehoben wissen, daß dies „mit verhältnismäßiger Besonnenheit und staatsmännischer Erkenntnis geschehen“ sei. Auch der Historiker Konrad Repgen steht mit seiner beeindruckenden Studie über die rheinische Märzrevolution und die Mai-Wahlen von 1848 in dieser Traditionsrichtung.
Die marxistische Geschichtsschreibung und die neuere Sozialgeschichtsschreibung führten zu einer Veränderung der Perspektiven. Nun rückten auch die Radikalen, die Kommunisten, die Arbeiter und die Demokraten ins Blickfeld. Insbesondere die marxistische Forschung kehrte dabei allerdings die Schuldzuweisung um, in dem sie die Geschichte der Revolution als eine Anklage gegen das liberale Bürgertum schrieb. Sie konnte sich dabei nicht zuletzt auf Friedrich Engels berufen. Der Barmener Industriellensohn und kommunistische Philosoph Friedrich Engels spitzte 1850 seine Darstellung der Revolution auf die Frage zu, warum in Rheinpreußen weder 1848 noch 1849 eine „allgemeine Insurektion der ganzen Provinz“ zustandegekommen sei. Bemerkenswert hielt er dies, da seiner Meinung nach das Rheinland „der einzige Theil Deutschlands“ gewesen sei, „dessen gesellschaftliche Entwicklung fast ganz die Höhe der modernen bürgerlichen Gesellschaft erreicht“ habe. Eine wesentliche Ursache sah er darin, daß das Großbürgertum das revolutionäre Volk „bei der ersten Gelegenheit ... verrathen“ habe.
Eine Ausweitung der Forschungsfelder brachten in neuester Zeit die historische Vereinsforschung, historische Studien zu Kirche und Religiosität sowie die Bürgertumsforschung. Sie setzten auch in der rheinischen Revolutionsforschung neue Akzente. Die Demokraten und die Radikalen erscheinen nun als Kontrahenten eines innerbürgerlichen Streits um den richtigen Weg in die Zukunft. Dieser Streit schwächte die bürgerliche Reformbewegung, er dürfte aber letztlich für das Scheitern der Revolution nicht entscheidend gewesen sein. Die neuere Forschung erweiterte aber vor allem unser Wissen über die politische Öffentlichkeit, die sich 1848 formierte und die es in dieser Breite und Intensität noch nie gegeben hatte. Diese Fundamentalpolitisierung war ein zentrales Kennzeichen der Revolution von 1848. Zentren dieser Politisierung waren die Städte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Studie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber über die demokratische Bewegung im Rheinland. Wie er hervorhebt, war die rheinische Revolution von 1848 von Anfang an eine Massenbewegung. Er kommt deshalb auch zu dem Fazit, daß die Revolution nicht im Rheinland gescheitert sei. Dort konnte insbesondere die demokratische Bewegung ihren Einfluß zunehmend ausweiten und stand in der letzten Phase auf dem Höhepunkt ihres Masseneinflusses. Besiegt wurde die Revolution vielmehr von einem Militär, das seine Soldaten aus Gebieten rekrutierte, in denen es eine solche demokratische Bewegung nicht oder kaum gab.
Vor dem Hintergrund dieser Forschungsentwicklung möchte ich versuchen, die Besonderheiten des Revolutionsverlaufs im Rheinland zu skizzieren. Existierte 1848/49 ein durchgehendes und übergreifendes politisches Konfliktmuster, das die Region in charakteristischer Weise von Nachbarlandschaften unterschied? Die aufgezeigten Forschungstendenzen – die Vereins- und Bürgertumsforschung einerseits sowie die (noch näher zu betrachtende) Protestforschung andererseits – lassen sich meiner Meinung nach dazu nutzen. Vielleicht lassen sie sich gerade am rheinischen Beispiel im Sinne einer ‘politischen Kultur’-Forschung integrieren.
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts gab es kein großes politisches Zentrum mit einem die Revolution entscheidenden Gewicht. Deshalb nahm die Revolution von 1848 in jeder deutschen Region und in jedem der damals fast vierzig deutschen Staaten einen jeweils eigentümlichen Verlauf – mit vielen Gemeinsamkeiten, aber auch mit wichtigen Besonderheiten. Die Gebiete beiderseits des Mittel- und Niederrheins, die hier als Rheinland bezeichnet werden, gehörten seit 1815 zur preußischen Monarchie und wurden in den 1820er Jahren zur preussischen Rheinprovinz vereinigt. Heute bilden sie zu einem Teil die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
Man muß sich bestimmte Voraussetzungen und Konfliktlagen vergegenwärtigen, um die Besonderheiten der Revolution von 1848 im Rheinland verstehen zu können. Hervorheben möchte ich vor allem vier Momente:
Erstens. Als „Nebenland“ eines großen deutschen Einzelstaates sorgte bereits im Vormärz die Verteidigung regionalspezifischer Rechtsinstitutionen und wirtschaftlicher Sonderinteressen für politischen Zündstoff. Es gab im preußischen Rheinland 1848 – also dreißig Jahre nach Eingliederung in die preußische Monarchie – noch starke Vorbehalte gegen Preußen. Dafür waren politische, kulturelle, aber auch konfessionelle und kirchenpolitische Spannungen ausschlaggebend. Zwischen rheinischem Bürgertum und preußischem Staat bildeten vor allem verfassungs- und rechtspolitische Gegensätze eine bedeutende Konfliktlinie.
Zweitens. Insbesondere der nördliche Teil des preußischen Rheinlandes gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wenigen bedeutenden deutschen frühindustrialisierten Gewerbelandschaften. Die Auflösung der feudalen Strukturen war besonders weit fortgeschritten. Elend und Massenarmut begleiteten den Aufstieg einer kleinen wirtschaftsbürgerlichen Minderheit, die vom Wirtschaftsaufschwung profitierte. Man muß sich vor Augen halten: Die Mehrheit der städtischen und ländlichen Bevölkerung verdiente meist gerade soviel, daß sie ihre existentiellen Bedürfnisse bestreiten konnte. Materielle Unsicherheit gehörte für die Bevölkerungsmehrheit zum Lebensalltag. Bei Ausbruch der Revolution zählten in den rheinischen Städten in der Regel 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung zu den Unterstützungsbedürftigen. In den Revolutionsmonaten vergrößerte sich die Arbeitslosigkeit sogar noch. Städtische Notstands- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen konnten die wachsende Arbeitslosigkeit nicht abfangen.
Drittens. Das Rheinland war eine stark verstädterte Region mit engen Markt- und Kulturbeziehungen zwischen Stadt und Land. Städtische Lebensweisen begannen die Gesamtgesellschaft zu durchdringen.
1848/1849 zählte man in der Rheinprovinz insgesamt 124 Städte. Immerhin 13 Städte zählten mehr als 10.000 Einwohner. Die meisten Städte hatten allerdings nur 2.000 bis 5.000 Einwohner. Die größte Stadt war Köln mit fast 90.000 Einwohnern, gefolgt von den Industriestädten Aachen mit fast 50.000 sowie Elberfeld, Barmen und Krefeld mit jeweils 36.000 bis 38.000 Einwohnern. Düsseldorf hatte 24.000, Koblenz rund 20.000, Bonn und Trier jeweils rund 17.000 Einwohner.
Die einzelnen Städte wiesen große Unterschiede auf. Köln war zwar nicht Sitz der obersten preußischen Behörden am Rhein – dies war Koblenz geworden – , aber Köln entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur führenden rheinischen Handels-, Banken- und Verkehrsmetropole. 1848 wurde Köln zum regionalen Kommunikationszentrum der rheinischen Revolution. Aachen gehörte – wie Krefeld und die Nachbarstädte Elberfeld und Barmen (heute in der Stadt Wuppertal vereinigt) – zu den Pionierstädten der Industrialisierung. Bereits im 18. Jahrhundert hatten diese Städte einen proto-industriellen Aufschwung erlebt. Soziale Unruhen spielten inbesondere zu Beginn der Revolution in diesen Städten eine bestimmende Rolle. Bonn, im 18. Jahrhundert prunkvolle Barockresidenz der Kölner Kurfürsten, erhielt aufgrund der 1818 neugegründeten Universität neue Bedeutung als Universitäts-, Beamten- und Rentnerstadt.
Bedeutsam für den Verlauf der Revolution im Rheinland wurde aber auch die Tatsache, daß viele dieser rheinischen Städte als Garnisons- oder gar als Festungsstädte große Militärbevölkerungen beherbergten. Die Revolutionsbewegung sah sich deshalb von Anfang an mit einem funktionierenden Militärapparat konfrontiert. In den Festungsstädten lag die eigentliche polizeiliche Gewalt faktisch in den Händen des Festungskommandanten. Die Präsenz des preußischen Militärs war allgegenwärtig. Zusammenstöße zwischen Militär- und Zivilbevölkerung waren unvermeidlich und stellten ein beständiger Konfliktherd dar.
Viertens. Das preußische Rheinland war historisch, wirtschaftlich und konfessionell relativ heterogen. Die Revolution war deshalb im Rheinland durch ein Nebeneinander lokaler politischer Aktivitäten gekennzeichnet. Dabei stellte die konfessionelle und insbesondere die katholische Loyalität ein oft unterschätztes Phänomen dar.
Das Rheinland hatte eine katholische Mehrheitsbevölkerung, die sich vor allem im westlichen Teil der Rheinprovinz konzentrierte. Das 'Kölner Ereignis', die Verhaftung des Kölner Erzbischofs Droste-Vischering im November 1837 durch die preußische Regierung, hatte die konfessionelle Polarisierung zwischen katholischer Mehrheitsbevölkerung im Rheinland und protestantisch-preußischem Staat vertieft. Konfessionelle Gegensätze waren im preußischen Rheinland in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine allgegenwärtige soziale Tatsache. Konfession griff weit über das kirchliche Leben hinaus in alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens ein.
1848 entwickelten sich die katholischen linksrheinischen Städte relativ rasch entweder zu Zentren des politischen Katholizismus wie Aachen und Koblenz oder zu Hochburgen der Demokraten wie Düsseldorf und Trier. Demgegenüber blieben die protestantischen Gebiete, Teile des Niederrheins und insbesondere der Wuppertaler Raum, bis ins Frühjahr 1849 hinein eher Bastionen der preußischen Monarchie im Rheinland. Historie und gemeinsame Konfession waren eine Quelle von Loyalität und Bindung an die preußische Monarchie. Erst unter dem Eindruck der Ablehnung der deutschen Kaiserwürde durch Friedrich Wilhelm IV. fand auch hier Anfang 1849 eine Radikalisierung statt. Ursache war enttäuschte Loyalität.
Um die revolutionären Ereignisabläufe zusammenzufassen, kann man drei Phasen unterscheiden. Die erste Phase erstreckte sich von März bis September 1848; man kann sie die „euphorische“ oder „aktive“ Phase nennen. Die Märzbewegung führte zur Wahl einer preußischen und einer deutschen Nationalversammlung, die am 18. und am 22. Mai zusammentraten und ihre Verfassungsarbeit aufnahmen. Die enorme Dynamik, die die revolutionäre Bewegung im Rheinland im März und April 1848 gewann, mündete im Sommer 1848 in einer zunehmenden Radikalisierung und Differenzierung – und zwar in politischer, sozialer und konfessioneller Hinsicht. Die Revolutionsbewegung lebte in der Hoffnung, trotz aller Widerstände in der einen oder anderen Weise ihren Siegeszug fortsetzen zu können.
Die zweite Phase der revolutionären Ereignisse erstreckte sich von Herbst 1848 bis März 1849. Sie soll als „defensive“ Phase bezeichnet werden. Die alten Mächte hatten ihren Schwächeanfall überwunden. Die Revolutionsbewegung sah sich mehr und mehr gezwungen, alles zu tun, um wenigstens die „Märzerrungenschaften“ zu verteidigen. Die dritte Phase umfaßte vor allem die Monate April bis Juni 1849. Vielleicht ist die Bezeichnung: „verzweifelte“ Phase gestattet. Denn nun stand der „verzweifelte“ Kampf für die in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung im Mittelpunkt. Jede dieser drei revolutionären Phasen hatte im Rheinland andere regionale und lokale Schwerpunkte.
Im Rheinland begann die Märzrevolution am 3. März, einen Tag nach ‘Weiberfastnacht’, gleichzeitig in mehreren Städten. In Düsseldorf und Aachen fanden am Abend des 3. März öffentliche Bürgerversammlungen statt. In Aachen sprach sich eine „Versammlung von Advokaten“ und „jüngeren Ärzten“ für eine „Repräsentativverfassung“ aus. Die rund 500 Teilnehmer der Düsseldorfer Versammlung berieten eine liberale Petition, die von Hugo Wesendonck mitausgearbeitet worden war. Wichtiger und zugleich typischer waren die Ereignisse in Köln. Hier fanden am 3. März gleich vier politische Veranstaltungen statt.
Nachmittags versammelte sich zunächst der Kölner Stadtrat und beriet über die politischen Zugeständnisse, die er vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. erbitten wollte. Nach längerer Debatte rang sich die Mehrheit der Kölner Ratsmitglieder dazu durch, eine „schleunige Einberufung des Vereinigten Landtages“ und „die Erweiterung des Wahlgesetzes“ zu fordern. Die preußische Monarchie war ein absolutistischer Staat ohne Verfassung. Die Ständeversammlungen (auch Landtage genannt), die für die einzelnen Provinzen Preußens eingerichtet worden waren, besaßen so gut wie keine parlamentarischen Kompetenzen. 1847 hatten diese preußischen Provinzial-Landtage erstmals als Vereinigter Landtag zusammenberaten. Die Forderungen der Kölner Ratsmehrheit zielten darauf, die Rechte dieser Landtage zu erweitern und damit einen ersten Schritt zur Parlamentarisierung Preußens einzuleiten. Am gleichen Tag trafen sich im Hotel „Königlicher Hof“ in Köln liberale Landtagsabgeordnete. Sie einigten sich ebenfalls darauf, eine liberale Fortentwicklung auf der Basis des Vereinigten Landtags anzustreben. Im Domhotel Albert Harffs versammelten sich gegen Abend 500 bis 600 Kölner „Bürger aus den mittleren und höheren Ständen“. Entschiedener als die Mehrheit der Stadtväter und entschiedener als die liberalen Landtagsabgeordneten drängte diese öffentliche Versammlung auf eine Parlamentarisierung Preußens und auf die Herstellung deutscher Einheit.
Aber die Bewegung in Köln erschöpfte sich am 3. März nicht in diesen doch eher „bürgerlichen“ Veranstaltungen. Die spektakulärste Aktion am 3. März 1848 in Köln stellte eine Demonstration von Handwerkern und Arbeitern dar, die von der Südstadt her vor das Rathaus aufzog. Die Teilnehmer, zunächst nur einige Hundert, später waren es 2.000 bis 5.000, trugen – dem Ernst des Ereignisses angemessen – Sonntagskleidung. Geführt wurden sie von dem Armenarzt Andreas Gottschalk, dem Schriftsteller Nikolaus Hocker und den ehemaligen Offizieren Friedrich Anneke und August Willich. Alle vier trafen sich seit 1847 in einem kleinen „Kränzchen von lauter Communisten“. Die Forderungen der Demonstranten, die sog. „Forderungen des Volkes“, gingen über die üblichen Märzforderungen hinaus. Ohne Umschweife wollten sie „Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk“. Ferner verlangten sie den „Schutz der Arbeit und Sicherstellung der menschlichen Bedürfnisse für alle“. Sie forderten die „vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten.“ Während der Demonstration selbst tauchte auf einigen handgeschriebenen Flugblättern der Wunsch nach „Friede mit allen Völkern“ als weitere Forderung auf.
Im Rathaus selbst richtete der Arzt Andreas Gottschalk einen Appell an die Ratsmitglieder, auch die Arbeiter und ihre Nöte zu berücksichtigen. Die Ratsmitglieder sollten auch „für den Vierten Stand frei Ihre Stimme erheben“ und für Sicherstellung des Lebens der Arbeitenden eintreten. Sein Appell blieb relativ erfolglos. Selbst Franz Raveaux, einer der wenigen demokratischen Gemeindevertreter, reagierte distanziert. Auf dem Rathausvorplatz brachten die Teilnehmer ihre unmittelbaren Nöte zum Ausdruck. Aus der Menge wurde beispielsweise gerufen: „Die Fremden nehmen uns die Arbeit weg!“ und „Die Maschinen“ müssen „abgeschafft werden“. Das Eingreifen preußischer Soldaten machte der Demonstration ein Ende. August Willich wurde noch am gleichen Tag, Friedrich Anneke und Andreas Gottschalk am folgenden Tag verhaftet – wegen Anstiftung zum Aufruhr.
Die Kölner Arbeiterdemonstration machte auf die öffentliche Meinung im Rheinland einen tiefen Eindruck. Das unerwartete und frühe Hervortreten eines sozialen Arbeiter-Radikalismus bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der gemäßigten bürgerlichen Mitte. Alle Hoffnungen auf eine friedliche nationale Revolution schienen gefährdet. Aber damit wurden die Liberalen der Demonstration nicht gerecht. Die Überreichung der „Forderungen des Volkes“ hatte nichts Gewalttätiges an sich. Die Dynamik der Kölner Vorgänge resultierte vor allem aus der Tatsache, daß mit dieser Demonstration zum ersten Mal in der preußischen Monarchie öffentlich die politischen Reformen eingefordert wurden, die in Frankreich und Süddeutschland längst Konsens waren und realisiert wurden. Zugleich machte die Handwerker- und Arbeiterdemonstration unübersehbar deutlich, daß die Revolution von Anfang an auch einen sozialen Charakter hatte.
In den beiden Wochen nach dem 3. März entwickelte sich im preußischen Rheinland eine erste Massenpetitionsbewegung für die Bewilligung von konstitutionellen Reformen. Von rheinischen Städten gingen rund 60 Petitionen aus. Zu erwähnen ist insbesondere eine erneute Petition des Kölner Stadtrats. Diese Petition überreichte eine Deputation von zwölf Ratsmitgliedern dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in Berlin. Am Morgen des 18. März – an dem Tag, an dem nachmittags und abends in Berlin heftige Barrikadenkämpfe ausbrachen – hatten die Kölner Vertreter eine Unterredung mit dem König. Heinrich von Wittgenstein beschwor den König, daß von der Antwort, welche die Deputation zurückbringe, „gewissermaßen die Zukunft der ganzen Provinz abhänge“. Der König soll sichtlich bewegt geantwortet haben, daß er „sich an die Spitze der Bewegung Deutschlands“ stellen und „im Innern die nötigen Freiheiten gewähren“ werde.
Die Nachricht vom Erfolg der Revolution in Wien, die am 18. März in Köln bekannt wurde, sowie die Berichte über die Barrikadenkämpfe in Berlin, die am 20. März in Köln bekannt wurden, brachen die Dämme. In den Tagen und Wochen nach dem 20. März fanden in den rheinischen Städten teilweise Tag für Tag große Bürgerversammlungen statt. Am 29. März berief der preußische König Ludolf Camphausen zum Ministerpräsidenten und David Hansemann zum Finanzminister. Zwei Symbolgestalten der rheinischen Opposition im Vormärz erhielten damit die Aufgabe, Preußen in die Verfassungsstaatlichkeit zu führen.
Nach dem 20. März erlangten die Forderungen nach allgemeinen Wahlen und nach einer „Nationalrepräsentation“, nach einem Verfassungsparlament für ganz Deutschland, grundsätzliche Bedeutung. Sie wurden zum Ausgangspunkt für eine neuerliche breite politische Versammlungs- und Petitionsbewegung. Einen Höhepunkt erlebte diese zweite rheinische Märzbewegung am 23. und 24. März. An diesen beiden Tagen versammelten sich im Kölner Rathaus auf Initiative des Trierer Stadtrats Gemeinderatsvertreter von 18 rheinischen Städten zum ersten rheinischen Städtetag. Die Städtevertreter sahen sich von Anfang dem Druck der Kölner Volksversammlungen ausgesetzt. Im Vordergrund der Auseinandersetzungen stand die Frage, wie das Wahlrecht für das preußische Verfassungsparlament ausgestaltet sein sollte. Die stark besuchten Kölner Volksversammlungen traten für ein allgemeines, geheimes Männerwahlrecht ein. Die Mehrheit der Städtevertreter fürchtete jedoch – wie ein zeitgenössischer Beobachter formulierte – „das allgemeine Stimmrecht wie ein Gespenst.“ Die rheinischen Städtevertreter plädierten deshalb für ein Zensus-Wahlrecht. Wer keine oder nur geringe Steuern zahlte, sollte von den Wahlen ausgeschlossen bleiben. Die Wahlrechtsfrage wurde zum letzten Anlaß für eine Scheidung der politischen Reformbewegung im Rheinland in Gemäßigte und Radikale, in Konstitutionelle und Demokraten, in Heuler und Wühler – wie die Zeitgenossen es formulierten.
Der Städtetag zeigte, daß die rheinischen Städte sich als Handlungseinheit, die Städtevertreter sich als Repräsentanten der Region begriffen. Aber der Städtetag war Ausdruck der Vormärz-Politisierung, ein auf den Vormärz verweisendes Ereignis. Auf den ersten Blick bestätigt der rheinische Städtetag – genauso wie bereits der Verlauf des 3. März in Köln – zugleich das Bild, das gemeinhin von der rheinischen Märzbewegung gezeichnet wird, nämlich einer Bewegung, die sich allein auf die bürgerlichen Schichten beschränkte und im wesentlichen verfassungspolitische Ziele verfolgte. Aber dieses Bild ist nicht zutreffend. Die rheinpreußische Märzbewegung war eine Volksbewegung, die – bei allen konkreten politischen Unterschieden – verfassungspolitische und nationale Reformen verlangte. Dies zeigte sich auch darin, daß dem Städtetag in der Versammlungsbewegung eine neue Konkurrenz erwachsen war. Aus dieser Versammlungsbewegung erwuchsen politische Vereine, die sich in regionalen Kongressen zusammenfanden. In den Versammlungen drückte sich der massive Partizipationsdruck aus, der für die Revolution kennzeichnend werden sollte. Innerhalb weniger Tage und Wochen wurden mehr politische Erfahrungen gemacht als vorher in Monaten oder sogar Jahren. Dabei wurde vor allem die Wahlrechtsfrage zu einem wichtigen Katalysator.
Preußische Regierung und insbesondere rheinische Liberale verkannten völlig die Dynamik der Bewegungen und den bereits erreichten Grad der Politisierung. Ausgerechnet für das Frankfurter Parlament, von dem ganz Deutschland eine grundlegende demokratische und nationale Reform, Freiheit und Einheit, erwartete, ausgerechnet für dieses Parlament sollten keine allgemeinen Wahlen stattfinden. In den Volksversammlungen im März und vor allem im April formierte sich deshalb – in Abgrenzung zu den liberalen Honoratiorenpolitikern – in allen rheinischen Städten eine demokratische Oppositionsbewegung. Gegen den Widerstand der preußischen Monarchie und gegen den Widerstand der neuen liberalen Regierung konnte diese Bewegung durchsetzen, daß alle erwachsenen Männer wahlberechtigt sein sollten – soweit sie keine Armenunterstützung bezogen.
Am 1. Mai fanden im Rheinland die ersten demokratischen Wahlen statt. Die Bedeutung dieser Wahlen kann kaum überschätzt werden. Der Schriftsteller und Feuilletonchef der „Kölnischen Zeitung“ Levin Schücking berichtete beispielsweise aus Köln: „Alle Geschäfte stehen still, die Arbeiter feiern und jeder opfert andere Rücksichten dem politischen Rechte ... – es sind ja viele Tausende unter diesen Wählern, welche nie in ihrem Leben ein politisches Recht haben ausüben dürfen!“ Die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang, in den sog. Urwahlen, lag in den rheinischen Städten weit über 50 Prozent. An die Urwahlen schlossen sich am 8. und am 10. Mai die eigentlichen Abgeordnetenwahlen an.
Da es 1848 keine Parteien und vor allem kaum Wahlerfahrungen gab, waren die Wahlen vor allem Persönlichkeitswahlen. Überraschend für viele Zeitgenossen war jedoch das gute Abschneiden der Katholiken – nicht nur in den ländlichen, sondern auch in vielen städtischen Wahlbezirken. Für Schücking war dieser Wahlausgang jedoch nicht unvorhersehbar gewesen. Wie er in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ ausführte, hatte „das allgemeine Stimmrecht ... ans Licht gebracht, was oberflächliche Beobachter leicht übersehen konnten“, nämlich „daß die große Menge des Volkes hier [im Rheinland] noch inniger an der Kirche als am Staate hängt.“
Nach dem Zusammentritt der Nationalversammlungen in Frankfurt am Main und in Berlin am 18. und 22. Mai blickten die Menschen mit großen Erwartungen auf die Arbeit der Verfassungsparlamente. Die Kölner Handwerker hatten beispielsweise auf ihren Versammlungen im April beschlossen, abzuwarten, „was binnen Kurzem in Frankfurt im Allgemeinen über Deutschland bestimmt“ werde. Im Sommer 1848 brandete jedoch die revolutionäre Erregung erneut hoch. Die sozialen Proteste sowie der politische Radikalismus der Arbeiter- und demokratischen Bewegung steigerten sich. Gleichzeitig mobilisierten katholische Kirche und katholische Vereine breite Bevölkerungskreise für kirchenpolitische Petitionsbewegungen. Wie im Frühjahr blieben die lokalen, regionalen und nationalen Bewegungen aufeinander bezogen und beeinflußten sich gegenseitig. Im Zusammenhang mit einer Regierungskrise in Berlin sowie dem Waffenstillstand von Malmö, der im August 1848 zwischen Preußen und Dänemark geschlossen wurde, erreichte diese „aktive“ Phase der Revolution im September ihren Höhepunkt.
Verantwortlich für die zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft war das Anwachsen der sozialen Spannungen aufgrund der verbreiteten Arbeitslosigkeit. In Köln entwickelte sich insbesondere gegen Gerichtsvollzieher und Zwangsvollstreckungen eine Art „Volksjustiz“. Aber auch die Unzufriedenheit über die politischen Ergebnisse der Revolution nahm zu. Die Leistungen der Liberalen gerieten in Mißkredit. Die Verfassungsparlamente konnten die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Enttäuschung machte sich breit. So rief beispielsweise ein Handwerker in eine Generalversammlung des Kölner Arbeitervereins im Juni 1848: „Auch die sogenannten Volksvertreter in Frankfurt und Berlin thun Nichts für uns, sie taugen zu Nichts, als zu leerem Phrasenfabriziren und zum gut Essen und Trinken.“ Die Bereitschaft wuchs, der Revolution eine radikalere Richtung zu geben. Eine Rolle spielte dabei, daß nach den relativ mühelosen Erfolgen der Märzrevolution Demokraten und Arbeiterradikale große Erwartungen an eine Fortsetzung des revolutionären Prozesses hegten. Die unbestimmt bleibende Forderung nach einer „Republik“ gab der Unzufriedenheit und den Hoffnungen ein Ziel. Unter den Arbeiterradikalen trat die Farbe Rot an die Stelle von Schwarz-Rot-Gold. Damit sollte den Forderungen nach Arbeit und Republik Ausdruck verliehen werden.
Die Grundrechtsdebatte in der Frankfurter Paulskirche rief eine breite kirchenpolitische Bewegung hervor. Die Grundrechte, die am 27. Dezember 1848 als Gesetz verkündet wurden, griffen tief in die Verhältnisse der Kirchen ein, betroffen waren das Verhältnis von Staat und Kirche im allgemeinen und insbesondere die kirchliche Schulaufsicht. In relativ übereinstimmenden Petitionen forderten im Juni 1848 in Köln 4.700 und in anderen rheinischen Städten wie in Aachen und Umgebung 7.600, in Koblenz 1.300 und in Krefeld 1.000 Männer die „Unabhängigkeit der Kirche vom Staat“. Die Petitionsbewegungen waren einerseits Ausdruck einer relativ breiten Übereinstimmung unter den rheinischen Katholiken in kirchenpolitischen Fragen. Die katholische Kirche sollte vom Staat unabhängig sein. Jede Einmischung in die inneren Angelegenheit der Kirche wurde abgelehnt. Zugleich hatten katholische Laien, die sich in sog. Pius-Vereinen zusammenschlossen, einen wichtigen Anteil an diesen Petitionsbewegungen. Im Gegensatz zu Katholikenvereinen in anderen deutschen Regionen beschränkten sich die rheinischen Pius-Vereine nicht auf kirchenpolitische Fragen. Sie setzten sich vielmehr zum Ziel, alle „politischen und sozialen Fragen ... vom katholischen Standpunkte aus“ behandeln zu wollen. Im Frühjahr 1849 trat innerhalb der Pius-Vereine angesichts einer drohenden preußisch-kleindeutschen Lösung der Nationalfrage sogar ein großdeutscher Radikalismus hervor. Zu keinem Zeitpunkt repräsentierten diese katholischen Vereine allerdings mehr als nur eine Minderheit der katholischen Rheinländer.
Im September 1848 reagierten die rheinischen Städte auf die Vorgänge in den Großstädten Berlin, Frankfurt und Wien. Auf Volksversammlungen wurde der von Preußen am 26. August mit Dänemark abgeschlossene Waffenstillstand abgelehnt. Vielfach wurde eine Verteidigung der „schleswig-holsteinschen Revolution“ „selbst auf die Gefahr eines europäischen Krieges hin“ gefordert. Für die deutsche Nationalbewegung war die Unterstützung der Deutschen in Schleswig-Holstein zu einem Prüfstein nationaler Einheit und zukünftiger Größe. Für die Realitäten der internationalen Politik hatte die deutsche Öffentlichkeit dabei wenig Verständnis. Die Unruhe steigerte sich, als die Anerkennung des Malmöer Waffenstillstandes durch die Frankfurter Nationalversammlung bekannt wurde. In Volksversammlungen und Petitionen wurde die Befürwortung des Waffenstillstandes als „Verrat an dem deutschen Volk und der Ehre der deutschen Waffen“ zurückgewiesen. Am 9. September fand eine große Volksversammlung bei Neuss mit rund 6.000 Teilnehmern statt. Am 17. September kam es bei Worringen mit rund 10.000 Teilnehmern zu eine der größten rheinischen Volksversammlungen der Revolutionszeit. Auch auf einem Plateau bei Bernkastel an der Mosel versammelten sich am 8. Oktober 1848 fast 10.000 Männer und Frauen. In den Septemberereignisse zeichnete sich eine Tendenz ab, die sich in den nächsten Monaten verstärken sollte, nämlich daß die rheinischen Demokraten immer größere Bevölkerungsgruppen mobilisieren konnten.
Die zweite Phase der revolutionären Ereignisse erstreckte sich von Herbst 1848 bis März 1849. Man kann sie als „defensive“ Phase bezeichnen. Und zwar deshalb, weil die Hoffnungen auf demokratische und parlamentarische Reformen noch nicht ganz verloren waren. Aber die Kräfteverhältnisse hatten sich inzwischen deutlich zugunsten der alten Mächte verschoben. Dies zeigte sich nicht zuletzt darin, daß die liberale und rheinische Ära der preußischen Politik zuende ging. Bereits im September war auch die zweite liberale Regierung (Auerswald-Hansemann) gescheitert, die dem Ministerium Camphausen gefolgt war. Sie scheiterte an der Frage, die preußische Armee auf die konstitutionelle Ordnung zu verpflichten.
Im Herbst 1848 erlebte die deutsche Revolution ihren Wendepunkt. Nach der Niederschlagung der Wiener Revolution durch die Truppen des Fürsten Windischgrätz am 31. Oktober, berief Friedrich Wilhelm IV. am 8. November ein Reaktionsministerium mit dem Grafen Brandenburg an der Spitze und verlegte die preußische Nationalversammlung von Berlin kurzerhand nach Brandenburg. Das Parlament protestierte und bestritt dem König das Recht, die Versammlung zu verlegen oder aufzulösen. Im Rheinland gingen die Wogen der Erregung hoch. Die Vereinbarungspolitik war gescheitert. Die Souveränität des Berliner Parlaments wurde mit Füßen getreten. Verfassung und friedliche Staatsreform schienen gefährdet. Die preußische Staatsstreichpolitik wurde von den verschiedensten Bevölkerungsgruppen und politischen Richtungen weitgehend einhellig abgelehnt – wenn auch mit unterschiedlicher Entschiedenheit und mit unterschiedlichen Perspektiven. Auch große Teile der rheinischen Liberalen und Katholiken fühlten sich durch die preußische Staatsstreichpolitik brüskiert und herausgefordert.
Die Bewegung erreichte im November eine Dynamik, die mit der vom März vergleichbar war. Darin stimmen die Zeitungsreportagen und die Regierungsberichte überein. Der Kölner Korrespondent des „Frankfurter Journals“ schrieb beispielsweise: „Die Volksversammlungen hören nicht auf, ein Placat folgt dem andern, man rennt zu dem Bahnhofe, Reisende zu sprechen und mit fieberhafter Hast Briefe in Empfang zu nehmen, und die neuesten Nachrichten, welche unsere Zeitungen in der Morgenausgabe bringen, ist unser Morgengebet, – nie hat man sich nach den Tagesblättern so umgesehen, wie in diesen Tagen.“ Im Gegensatz zur politischen Aufregung waren die konkreten politischen Erfolge gering. Auf den Aufruf der preußischen Nationalversammlung hin wurden zwar vielfach keine Steuern mehr gezahlt. Aber insgesamt scheiterte die Steuerverweigerungskampagne. Dazu trug vor allem bei, daß die Frankfurter Paulskirchenversammlung den Steuerverweigerungsbeschluß der preußischen Abgeordneten verwarf.
In den folgenden Monaten, im Winter 1848/49 und im Frühjahr 1849, gewannen die Demokraten im Rheinland als Verteidiger der Märzrevolution und ihrer „Errungenschaften“ Mehrheiten.
Nach der Auflösung der preußischen Nationalversammlung gewährte der preußische König aus eigener Machtvollkommenheit am 5. Dezember 1848 eine überraschend liberale Verfassung. Gleichzeitig mit der Oktroyierung der Verfassung schrieb der preußische König Wahlen für eine Erste und Zweite Abgeordnetenkammer aus. Die konstitutionell gesinnten Bevölkerungsteile reagierten versöhnlich. Die konstitutionellen Vereine riefen meist zu einer „unbedingten“ Annahme der oktroyierten Verfassung auf. Die oktroyierte Verfassung befriedigte zudem den größten Teil der Forderungen der katholischen Kirche im Rheinland. Der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel drückte seine „Zufriedenheit mit der Verfassung ganz entschieden aus“. Die demokratische Linke lehnte dagegen die Verfassung vehement ab, da sie oktroyiert war und vor allem ein ausgedehntes königliches Notverordnungsrecht vorsah.
Die preußischen Parlamentswahlen im Januar und Februar 1849 wurden zu einer eindrucksvollen Demonstration für Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit. Die rheinischen Demokraten errangen einen überzeugenden Wahlsieg. Nach den Wahlen intensivierten und veränderten sich die demokratischen Organisationsformen. Neben oder sogar an die Stelle der demokratischen Vereinsversammlungen traten Wahlmänner und Urwähler Versammlungen. Die Verbindungen zwischen Vereinen, Wahlvolk und Abgeordneten wurde enger.
Die politische Mobilisierungsfähigkeit der rheinischen Revolutionsbewegung kontrastierte jedoch mit ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Schwäche gerade in den großen rheinischen Städten. Als Mittel der politischen Reaktion griffen die preußischen Behörden in rheinischen Städten im Laufe des Jahres 1848 mehrfach zur Verhängung des Belagerungszustandes. Im Gefolge dieser Maßnahme wurden die Bürgerwehren aufgelöst und die Bewaffnung der erwachsenen Männer – soweit sie als Bürgergardisten angenommen worden waren – rückgängig gemacht. Der preußische Staat übernahm wieder die Strukturierung der öffentlichen Räume. Die Verhängung des Berlagerungszustandes erfolgte im Mai 1848 über Trier und Mainz, Ende September über Frankfurt am Main und Köln, im November über Düsseldorf und einige Moselorte, im Gefolge der Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne sollte es dann zur Verhängung von Belagerungszuständen über weitere Städte kommen. Unter den Zeitgenossen waren diese Zusammenhänge weitgehend bekannt. Seit der Verhängung des Belagerungszustandes über Mainz im Mai 1848 hatte sich sogar die Redewendung – zumindest unter den Demokraten – eingebürgert, „die Stadt in Belagerungszustand zu erklären, die Bürgerwehr zu entwaffnen, und uns kurz und gut nach Mainzer Manier zu behandeln“.
Die Verhängung des Belagerungszustandes hatte für die einzelnen Städte eine große Bedeutung. Nach der Entwaffnung der Bürgerwehr wurde das Militär, das durch die Festigung der bürgerlichen Ordnung neue Sympathien in Teilen des Mittelstands und Bürgertums erworben hatte, wieder zur entscheidenden Ordnungsmacht. Während des Belagerungszustandes bewies das Militär in der Regel massive Präsenz. Ein Korrespondent des Hamburger Modemagazins „Jahreszeiten“ berichtete Anfang Oktober 1848 aus Köln: „Das Militair zieht uns von allen Seiten zu, wie man meint, sollen in und um die Stadt gegen 15.000 Soldaten liegen, auf mehreren Plätzen sind die Kanonen aufgefahren, ... starke Patrouillen durchziehen die Stadt.“ Da Preußen sich traditionell auf seine Streitkräfte verließ, waren auch in den rheinischen Städten kaum nennenswerten Polizeikräfte vorhanden. Angesichts der Volksbewegungen im März hatte das Militär seinen polizeilichen Aufgaben nicht mehr nachkommen können. Unbewaffnete Bürger über den Haufen zu reiten oder niederzuschießen, war kaum eine Antwort auf politische und soziale Probleme. Darüber hinaus zeigten auch die Soldaten keine große Bereitschaft, auf das Volk zu schießen. Diese Konstellation trug entscheidend zur Schwäche der preußischen Regierung in den ersten Revolutionsmonaten des Jahres 1848 bei. Der fortschreitende Radikalisierungs und Differenzierungsprozeß ermöglichte jedoch der Regierung im Laufe des Jahres 1848 wieder ihre alte Stärke zurückzugewinnen – gestützt auf Truppenteile, die aus jeweils anderen Provinzen rekrutiert wurden. So gehörten seit Oktober 1848 auch in Köln militärische Patrouillen wieder zum Straßenalltag. Die Zusammenziehung von immer mehr Truppenkontingenten führte unvermeidlich zu Zusammenstößen zwischen Soldaten und Zivileinwohnern. Wirtshausschlägereien, die sich zu blutigen Straßenschlachten zwischen Zivilbevölkerung und Militär auswachsen konnten, wurden 1849 in vielen rheinischen Städten Alltag.
In der dritten Phase der revolutionären Ereignisse im Rheinland, der „verzweifelten“ Phase, lag der Schwerpunkt der revolutionären Bewegung in Städten und Teilen der Rheinprovinz, die in den vorhergehenden Phasen eher ruhig geblieben waren.
Am 28. März 1849 brachte die Frankfurter Nationalversammlung nach langen Auseinandersetzungen die Beratungen über die deutsche Reichsverfassung zu einem Abschluß. Am selben Tag wählten die Frankfurter Abgeordneten den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum erblichen deutschen Kaiser. Zahlreiche deutsche Staaten erkannten zwar die Verfassung an. Bayern, Österreich und Preußen verweigerten die Anerkennung. Friedrich Wilhelm IV. lehnte am 28. April die – wie er sie nannte – „Schweinekrone“ ab. Einen Tag vorher hatte Friedrich Wilhelm IV. bereits das Berliner Parlament wieder aufgelöst und ein Drei-Klassen-Wahlrecht erlassen. Um die politische Schikane auf die Spitze zu treiben, mußte die Stimmabgabe in Preußen nun sogar öffentlich erfolgen.
Im Rheinland formierte sich energischer Widerstand. Selbst die Konstitutionellen waren nun erneut gegen die „schwankende hinterhältige Politik“ der preußischen Regierung. Für viele Konstitutionelle hing die gesamte deutsche Zukunft vor allem von der Herstellung der nationalen Einheit ab, deshalb waren sie immer wieder bis hin zur Preisgabe von Freiheitsrechten zu großen Zugeständnissen gegenüber Preußen bereit gewesen. Als mit der Ablehnung der Kaiserwürde durch Friedrich Wilhelm IV. die nationalen Einigungshoffnungen scheiterten, waren sie nicht bereit dies hinzunehmen. Für die Demokraten, die teilweise gar nicht oder nur mit großen Vorbehalten der Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der Deutschen zugestimmt hatten, war dessen Ablehnung ein willkommener Vorwand. Sie scharten sich hinter der Fahne der Reichsverfassung und wollten mit um so größerer Entschiedenheit und Entschlossenheit den Kampf für demokratische Institutionen und Freiheitsrechte erneut aufnehmen. Der Kölner Franz Raveaux rief am 7. Mai in Frankfurt die Vertreter demokratischer Vereine dazu auf, dafür zu sorgen, „daß Kugeln gegossen und Patronen verfertigt werden“.
Am 6. Mai hielten die konstitutionellen, die demokratisch-konstitutionellen, die demokratischen und die Arbeitervereine Regionalkongresse in Köln und im benachbarten Deutz ab. Alle vier Kongresse wandten sich gegen den offenen Bruch der preußischen Krone mit der Frankfurter Nationalversammlung. Am 8. Mai versammelten sich dann erneut 400 bis 500 Vertreter rheinischer Städte in Köln. Dieser zweite rheinische Städtetag votierte nachdrücklich für die Reichsverfassung. Durch „alle ... zu Gebote stehenden Mittel“ sollte ihr Geltung verschafft werden – selbst auf die Gefahr hin, daß der „Bestand Preußens ... gefährdet“ werden könne. Die preußische Regierung wertete dies als ein Signal für Rebellion und Bürgerkrieg.
In einigen Städten der Rheinprovinz und Westfalens, in Düsseldorf, Elberfeld, Hagen, Solingen und Iserlohn brachen Aufstände aus. Sie konnten aber rasch durch Militär erstickt werden. Im bergisch-märkischen Industriegebiet war zunächst die Landwehr Träger der Aufstandsbewegung, deren Zentren Elberfeld und Iserlohn waren. In Elberfeld, wo sich sogar ein Sicherheitsausschuß als „provisorische Regierung der neu zu bildenden rheinischen Republik“ gründete, standen zeitweise 2.000 bis 3.000 Freischärler für die Reichsverfassung bereit. Die Barrikadenkämpfe in Düsseldorf forderten am 9./10. Mai 16 Menschenleben. In Iserlohn ereignete sich mit über hundert Toten das blutigste Geschehnis der Revolution von 1848 in Westdeutschland. Bis vor einigen Jahren wußte niemand, wo die Iserlohner Gefallenen bestattet worden waren. Nur auf dem Grab des von Aufständischen erschossenen Oberstleutnants lag ein Gedenkstein. Wie der Historiker der westfälischen Revolutionsgeschehnisse, Wilhelm Schulte, schrieb, war „das mit viel Idealismus begonnene Werk ... lange Zeit dem Vergessen preisgegeben“. Mißlingen galt als Beweis für Irrtum.
Nach der militärischen Niederschlagung der Mai-Unruhen setzte eine Welle der Repression ein, die in einer unverhüllten politischen Reaktion mündete. Viele Achtundvierziger mußten ins schweizerische, französische, englische oder amerikanische Exil flüchten, wo sie manchmal bleibende Spuren hinterließen. Manche starben im Kampf. Viele arrangierten sich aber auch und wurden später teilweise einflußreiche Politiker oder Unternehmer. In jedem Fall wurde die Revolution von 1848/49 für viele zum Schicksals- und Wendejahr. Bei aller Naivität und allem Romantizismus, der den Achtundvierzigern eigen war, sind ihr bewundenswerter Mut und ihre bedingungslose Freiheitsliebe hervorzuheben.
Nach diesem Überblick über die revolutionären Ereignisse möchte ich auf die strukturellen Besonderheiten der rheinischen Revolution näher eingehen. Die Revolution von 1848 war vor allem durch eine tiefgreifende Veränderung der politischen Kultur gekennzeichnet. 1848 bildete sich eine politische Öffentlichkeit mit freier Presse, Versammlungen, Festen, Vereinen und Parteien heraus. Demokratie wurde erstmals erfahrbar. Breite Bevölkerungskreise übernahmen die modernen Mittel der politischen Meinungsäußerung und Willensbildung, der politischen Partizipation und Organisation. Die Presse erfuhr eine explosionsartige Ausweitung. Die politischen Vereine wurden zur Schule staatsbürgerlichen Handelns.
Im Rheinland hatte sich bereits im Vormärz ein spezifisches Muster von öffentlich gesellschaftlichem Leben entwickelt. In den Mittel- und Oberschichten existierte ein relativ starkes bürgerliches Kollektivbewußtsein, das an die städtische Zivilgesellschaft gebunden war. In kirchen- und verfassungspolitischen Petitions- und Vereinsbewegungen hatte man bereits vor der Märzrevolution von 1848 politische Erfahrungen gesammelt. Damit unterschied sich das preußische Rheinland sehr stark vom Osten Preußens, aber auch von der preußischen Hauptstadt Berlin. Waren im Vormärz die Liberalen Repräsentanten und Verfechter dieser politisierten Öffentlichkeit, so wurden sie im Laufe der Märzrevolution von den Demokraten in dieser Rolle abgelöst. Die Demokraten verfochten ein stärker emanzipatives Konzept. An die Stelle der „Bürger“ trat bei ihnen 1848 das „Volk“ als Adressat und Träger der politischen Stadtgesellschaft.
Die politische Vereins- und Parteibildung trug wesentlich zur Veränderung der politischen Kultur in den rheinischen Städte bei. Im April, spätestens im Mai und Juni 1848 mündete die Mobilisierung und Politisierung in allen rheinischen Städten in einer schnellen Folge von Vereinsgründungen. Dabei vollzog sich die Vereinsbildung auf der Basis politischer, sozialer und konfessioneller Gemeinsamkeiten. Eine gewisse Vorreiterrolle hatte die Stadt Köln. Bereis im April bildete sich unter Führung des Armenarztes Andreas Gottschalk ein Arbeiterverein, der zum Vorbild für viele andere Arbeitervereine im Rheinland wurde. Der Arbeiterverein entfaltete eine beachtliche Anziehungskraft auf einen großen Teil der Kölner Arbeiter und Handwerker. Er nahm sich ihrer wirtschaftlichen Einzelinteressen an und verlieh ihrem Zorn Ausdruck. In einer Adresse an Ministerpräsident Camphausen wurde Hilfe bei der Durchsetzung von Mietstundungen gefordert. In der Adresse hieß es: „Die arbeitende Klasse hat keine Zeit zu verlieren, sie hungert!“ Die Kölner Demokratische Gesellschaft, in der auch Karl Marx mitwirkte, konstitutierte sich Ende April. Ein weiterer demokratischer Verein gründete sich Anfang Mai in Köln. Ein liberaler Bürgerverein trat ebenfalls im Mai ins politische Leben Kölns. Das Schlußlicht bildete ein katholischer Verein – der im Juni 1848 gegründete und nach Papst Pius IX. benannte Pius-Verein.
Die Vereine waren in ihrem Wirken und in ihren Satzungen überraschend stark von einem echten Verständnis für Demokratie durchdrungen. In den einzelnen Vereinen übten die Mitglieder den Umgang mit demokratischen Formen. Die Vorstände wurden frei gewählt und durch Generalversammlungen kontrolliert. Über den beispielhaften Vereinsalltag des Elberfelder „Politischen Klubs“ gibt der Bericht eines empörten Gegners Aufschluß: „Da sitzen sie, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, bunt durcheinander, höhere und niedere Beamten, Advokaten, sogar junge Leute aus guten, hiesigen Familien, Mittelbürger, ja Handwerker und Arbeiter. Und jeder spricht von der Tribüne über staatliche Verhältnisse, wie wenn er ein natürliches Recht dazu hätte, und Jedem, ohne Ausnahme gibt der Präsident das Wort, ja sogar dem Arbeiter!“ In den politischen Vereinen bildete sich im Kleinen heraus, was man auf die staatlichen Verhältnisse zu übertragen dachte. Alle rheinischen Vereine hatten wesentlichen Anteil an der Herausbildung nationaler Richtungsverbände und am Zustandekommen nationaler und regionaler Kongresse.
Mit der politischen Vereinsbildung ging eine politische Differenzierung einher. Deshalb ist ein kurzer Blick notwendig auf die wichtigsten politischen Parteirichtungen in den rheinischen Städten: Liberalismus, Demokratie und politischer Katholizismus.
Die historische Forschung zählt zu den Charakteristika der politischen Entwicklung im preußischen Rheinland die Herausbildung eines spezifisch rheinisch großbürgerlichen, politischen Liberalismus. Der rheinische Liberalismus setzte bereits ganz auf die Karte der industriellen Entwicklung. Die bürgerliche Gesellschaft sollte nicht gegen die Industrie, sondern mit ihr, unter Inkaufnahme einer breiten Schicht von Lohnarbeitern verwirklicht werden. Es wird aber allzu oft übersehen, daß die konkrete liberale Bewegung im Rheinland nicht allein von den oft zitierten und vielfach untersuchten Symbolgestalten des ‘rheinischen Liberalismus’ bestimmt wurde. Vielmehr gaben sich in den liberalen Vereinen Wirtschaftsbürger, Freiberufler und mittlere Handwerker in der Regel ein Stelldichein. Im Kölner Bürgerverein mußten die direkten Parteigänger Ludolf Camphausens sich mit den Vertretern der Handwerkerbewegung und des politischen Katholizismus auseinandersetzen. Die rheinischen Konstitutionellen strebten nach verfassungspolitischen Veränderungen und einer allgemeinen Liberalisierung unter Wahrung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Für sie waren mit den ‘Märzerrungenschaften’ und der Konstitutierung der Verfassungsparlamente in Berlin und Frankfurt die wesentlichen Forderungen zunächst einmal erfüllt. Weitere Veränderungen in Staat und Gesellschaft wollten sie nur durch Kompromisse mit der Krone erreichen. Durch ihre vehemente Ablehnung der demokratischen Radikalisierung als Weg in „Anarchie“ und „Chaos“ gerieten sie mehr und mehr in eine Art Schicksalgemeinschaft mit den Repräsentanten des alten Regimes. Als konstitutionelle politische Kraft und als städtische Ordnungspartei konnten die Liberalen beachtliche Bevölkerungsgruppen hinter sich bringen. Sie scheiterten letztlich am fehlenden Willen Friedrich Wilhelms IV. und der preußischen Hofpartei, einzulenken und zentrale Machtbereiche aufzugeben.
Die Demokraten und Republikaner wollten die Revolution vorantreiben, nicht nur weil sie die ‘halbe’ Revolution vollenden wollten, wie oft mißverstanden wird. Sie glaubten vor allem nur so die ‘Märzerrungenschaften’ sichern zu können. Sie wollten die Revolution weiterführen, um Staat, Verwaltung und Militär grundlegend zu reformieren. Dies wollten sie in ihrer Mehrheit jedoch keineswegs durch einen erneuten gewaltsamen Umsturz erreichen, wie es scheinbar im Begriff der „zweiten Revolution“ immer wieder anklang. Durch Vereinsbildung, politische Aufklärung und eine möglichst breite Mobilisierung der Bevölkerung sollten die demokratischen Ziele verwirklicht werden.
Zu einem immer noch viel zu wenig beachteten Charakteristikum der rheinischen Revolution wurde 1848 das Auftreten eines politischen Katholizismus, der sich in Köln und im Rheinland bereits relativ rasch nach Ausbruch der Revolution formierte. Dabei ist es aber nötig zwischen den katholischen Petitionsbewegungen und der katholischen Vereinsbewegung im engeren Sinne zu unterscheiden. Die katholischen Petitionsbewegungen konnten sich auf einen breiten Konsens in kirchenpolitischen Fragen stützen. Organisator der Petitionsbewegungen war vor allem die katholische Kirche selbst. Demgegenüber konnte die katholische Vereinsbewegung nur eine relativ kleine Minderheit der rheinischen Katholiken mobilisieren.
Die kirchenpolitisch aktiven Katholiken vertraten einen spezifischen Freiheitsbegriff: Ihre Vorstellungen zielten auf die Sicherung und den Ausbau besonderer Rechte der katholischen Kirche. Die Kirche sollte als Institution völlig unangetastet bleiben. Religions- und Gewissensfreiheit interpretierten sie nicht im Sinne des zeitgenössischen Liberalismus als individuelle Freiheit, sondern als korporative. Das politische Meinungsspektrum war innerhalb der katholischen Pius-Vereine, die im Sommer und Herbst 1848 ins politische Leben traten, von Anfang an sehr breit. Dem „unbeteiligten Dritten“ soll es – so ein Kölner Beobachter – sogar „unentwirrbar“ gewesen sein. Neben einer Mehrheitsströmung, die entschieden katholisch und gemäßigt konstitutionell war, gab es auch demokratische Stimmen. Trotz einer relativ breiten Unterstützung oder zumindest Duldung der kirchenpolitischen Forderungen durch die rheinische Bevölkerung konnte der politische Katholizismus nicht beanspruchen, alle Katholiken zu vertreten. In diesem Sinne gelang es ihm nicht, sich als katholische Partei zu etablieren zwischen Demokraten und Liberalen, sozusagen als politische Mittelpartei mit starken konfessionellen Bindungskräften. Obwohl der politische Katholizismus bereits ein beachtliches Organisationsnetz aufbaute, trennten ihn markante Unterschiede von seinem Nachfolger im Kaiserreich.
Im Jahre 1848 entwickelte die soziale Frage in Deutschland über die schwierige Doppelaufgabe hinaus – den parlamentarischen Verfassungsstaat und zugleich den Nationalstaat schaffen zu müssen – eine enorme Sprengkraft. In der Sozialgeschichtsschreibung und in der marxistischen Geschichtsschreibung versuchte man diese Tatsache durch die Unterscheidung zwischen „bürgerlicher“ und „proletarischer“ Revolution zu fassen. Dieser Gegensatz greift jedoch zu kurz, nicht zuletzt da nur auf die Aspekte der sozialen Bewegungen von 1848 abgehoben wurde, die sich in eine Arbeiterbewegungs-Geschichtsschreibung integrieren ließen. Wie die neuere Protestforschung zeigt, waren die sozialen Bewegungen jedoch viel breiter und keineswegs auf die Arbeiter im engeren Sinne beschränkt. Die sozialen Volksbewegungen gaben der Revolution Schubkraft und Dynamik. Dabei folgten die nicht-bürgerlichen Sozialschichten anderen Zielen und anderen Handlungsmustern. Sie hatten weder den Nationalstaat noch den Aufbau dauerhafter neuer Verfassungsinstitutionen im Blick. Im Mittelpunkt standen vielmehr konkrete Forderungen im alltäglichen Lebensumfeld. Ausgehend von der neueren Protestforschung versucht die heutige Revolutionsforschung den Gegensatz von „bürgerlicher“ und „sozialer“ Revolution als Unterscheidung zwischen „institutioneller“ und „spontaner“ Revolution neu zu fassen. Dieter Langewiesche, auf den diese Unterscheidung zurückgeht, spricht jetzt sogar von „institutioneller“ und „elementarer“ Revolution. Während die Unterscheidung von „institutionell“ und „spontan“ neutral und nachvollziehbar ist, werden beim Begriff „elementar“ allzu sehr Erinnerungen an das Marxsche Basis-Überbau-Modell geweckt.
Nachdem die neuere Forschung sich vor allem auf die Trennlinien zwischen nationaler und Verfassungsrevolution einerseits und den sozialen Protestbewegungen andererseits konzentriert hatte, scheint es nun vor allem fruchtbringend – um eine Anregung Dieter Langewiesches aufzugreifen – „nach den komplizierten und widersprüchlichen Verbindungslinien zu fragen“. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Vermittlungsleistungen der rheinischen Demokraten – und in abgeschwächter Weise auch der rheinischen Katholiken – hervorzuheben.
Gerade die rheinischen Demokraten bauten Brücken zwischen „institutioneller“ und „spontaner“ Revolution. Sie trugen wesentlich dazu bei, daß die traditionellen Formen des sozialen Protests in moderne Formen politischer Interessenartikulation übersetzt wurden. Die zahlreich überlieferten Protokolle der demokratischen Vereinsversammlungen legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Die Demokraten brachten den enormen Partizipationsdruck zum Ausdruck und versuchten ihn zu kanalisieren, in der Regel in gemäßigte Richtung, teilweise aber auch in eine radikale und sogar antiparlamentarische Richtung. Die Volks- und Vereinsversammlungen der Demokraten waren mit ihren Presseschauen, Vorlesungen, Vorträgen und Diskussionen vor allem Bildungsveranstaltungen. Wie ein Kölner Korrespondent der Hamburger Modezeitschrift „Jahreszeiten“ schrieb, hatte „die Politik ihre Hörsäle unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen, in allen Wirthshäusern, vom Hotel ersten Ranges bis zu der gemeinsten Taverne herab“, aufgeschlagen. Überall beschäftigten sich die Menschen „mit den großen Fragen der Zeit“. Für die Trierer Demokraten stand sogar außer Zweifel, daß die Vereine mit ihren politischen Organisations-, Mobilisierungs- und Bildungsaufgaben in gewissem Sinne die wirkliche Revolution seien. Bereits Ende April 1848 verkündeten deshalb die Trierer Demokraten, nun die „Volksrevolution“ auf dem Weg „der Vereinigung“ fortsetzen zu wollen. Sie sahen einen engen Zusammenhang zwischen dem „Vordringen der Volksherrschaft“ und einer „durch democratische Vereine zu fördernden politischen Ausbildung des Volkes“. Der amerikanische Historiker Jonathan Sperber weist darauf hin, daß die Geschichte der Revolution von 1848 im Rheinland „a story of the growing intersection between spontaneous popular movements and an organized democratic politics“ sei. Auf einen Ausgleich zwischen den verschiedenen rivalisierenden und ihre Sonderinteressen vertretenden Teilen der Stadtgesellschaften bedacht, wandten sich rheinische Demokraten 1848/49 immer wieder gegen eine soziale Polarisierungspolitik. Eine neuerliche Analyse des zeitgenössischen Diskurses über „Bourgeoisie“ und „Arbeiter“ könnte hier interessante Aufschlüsse bringen.
Die Situation stellte sich in den Handels- und handwerklichen Gewerbestädte einerseits und andererseits in den stärker durch die Frühindustrialisierung geprägten Städte zwar unterschiedlich. Aber selbst in den Fabrikstädten, in denen wie in Aachen oder in Krefeld eine tiefe Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum klaffte, entwickelten sich Übergänge. Dies sei kurz am Beispiel der Stadt Krefeld illustriert.
Krefeld, vom Seidengewerbe dominiert, war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine schnell wachsende Stadt mit gravierenden sozialen Widersprüchen. Die Produktion war hausindustriell. Fabriken oder Manufakturen spielten kaum eine Rolle. Die Unternehmer waren Verleger. Der Lebensalltag der Seidenweber war durch Lohnkürzungen und willkürliche Behandlung geprägt. Dagegen kam es immer wieder zu Tumulten, schließlich auch im März 1848. Die Unternehmer lenkten jedoch rasch ein. Bereits Ende März kam es zu ersten Vereinbarungen, denen im Mai 1848 weitere folgten. Wie der Historiker Peter Kriedte in seiner Studie über Krefeld hervorhob, schufen diese Vereinbarungen zugleich die Voraussetzungen für ein neues Konfliktverhalten. Zwar fiel jede Organisierung unter hausindustriellen Bedingungen schwer, aber die Protestmuster, die sich im Vormärz herausgebildet hatten, traten zurück. Nach Kriedte verstärkte sich im Laufe des Jahres 1848 die Teilnahme der Weberbevölkerung am politischen Leben „in einer geradezu erstaunlichen Weise“. Interessanterweise blieben in Krefeld die konfessionellen Gegensätze „so bestimmend, daß sie auch die politische Orientierung vorzeichneten“. So schlossen sich die protestantischen Weber eher dem konservativ-monarchischen „Preußenverein“ an. Die katholischen und deutsch-katholischen Weber unterstützten demgegenüber in den Januarwahlen 1849 und in der Reichsverfassungskampagne eher die Demokraten.
Im Rheinland waren die Demokraten – aber auch die Katholiken – in besonderer Weise in der Lage Brücken zwischen institutioneller und spontaner Revolution, zwischen verfassungspolitischer Revolution und sozialen Bewegungen zu bauen. In einem viel stärkeren Maße als in anderen Regionen fand im Rheinland eine gegenseitige Beeinflußung statt.
Der Geschichtswissenschaft fiel es schon immer schwer, der regionalen Brechung der Revolution von 1848, eines nationalen oder besser: eines europäischen Ereignisses, gerecht zu werden. In der Regel schrieb man aus preußischer oder österreichischer Sicht oder aus der Sicht eines anderen Einzelstaates. Inzwischen wuchs das Bewußtsein für die Regionen. Das Dritte Deutschland spielt heute in allen Darstellungen eine wichtige Rolle. Aber in der Regel bleiben die Revolutionsdarstellungen bei einer additiven Betrachtung stehen, bei dem Bild eines regionalen Nebeneinanders. Einen interessanten Versuch, die politische Landkarte Deutschlands im Jahre 1848 zu skizzieren, unternahm der Historiker Heinrich Best. Auf der Grundlage einer Analyse des politischen Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewann er das Bild einer „sektionalen“, einer Einzelregionen übergreifenden, politisch-kulturellen Spaltung Deutschlands. Er konstatierte einerseits eine Zone „linker Repräsentation“ und andererseits eine Zone „rechter Repräsentation“. Die Zone „linker Repräsentation“ erstreckte sich als „roter Halbmond“ von Süd- und Südwestdeutschland über das Kurfürstentum und Großherzogtum Hessen, das Königreich und den Südrand der Provinz Sachsen, Schlesien, die deutschsprachigen Gebiete Böhmens bis nach Mähren. Die Schwerpunkte „rechter Repräsentation“ lagen demgegenüber in den Kerngebieten der drei großen deutschen Einzelstaaten, nämlich Altbayern, Altpreußen und die deutschen Erblande der Habsburgermonarchie. In diesem räumlich übergreifenden Gesamtzusammenhang stellte das preußische Rheinland nach Best eine Zone der Überlappung dar – ähnlich wie Schlesien und die neubayerischen Regierungsbezirke Schwaben und Unterfranken. Abstrahiert man nun von den Ergebnissen Bests, soweit sie sich auf das politische Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im engeren Sinne und ihre politische Richtungsentscheidungen beziehen, treten jedoch die Gemeinsamkeiten des preußischen Rheinlandes mit den Ländern in der Zone „linker Repräsentation“ deutlich hervor. Genauso wie diese wies das preußische Rheinland ein hohes ‘Partizipationsniveau’ auf und verfügte über ausgereifte außerparlamentarische Oppositionserfahrungen. Aufgrund besonderer Konfliktlagen und Ausgangsbedingungen waren die politischen Richtungsentscheidungen differenzierter. Das Spektrum eines fünfgliedrigen Parteiwesens war klarer ausgeprägt. Es reichte von den Konstitutionellen und den Demokraten bis hin zu den Sozialisten (Arbeitervereine), den Konservativen (Preußenvereine) und den politischen Katholiken (Pius-Vereine). Durch einen Blick auf den politischen Katholizismus läßt sich diese ausgeprägertere politische Differenzierung unterstreichen. Im Unterschied zu den katholischen Pius-Vereinen in anderen deutschen Regionen beschränkten sich die rheinischen von Anfang an nicht nur auf kirchenpolitische Ziele und versuchten, allerdings letztlich erfolglos, sich als politische Mittelpartei zu profilieren. Demgegenüber kam in Baden zwar im Sommer und Herbst 1848 auch eine breite katholische Vereinsbewegung zustande, aber sie hatte nur sehr kurze Zeit Bestand und war von Anfang an allein auf die Organisierung kirchenpolitischer Petitionen gerichtet.
Innerhalb des preußischen Gesamtstaates – um einen engeren Bezugsrahmen zu wählen – spielte das Rheinland, das stärker industrialisiert und mit einer ‘moderneren’ politischen Kultur ausgestattet war als die preußischen Kernlande, als vorantreibende Kraft eine wichtige Rolle. 1851 brachte der Hochkonservative Leopold von Gerlach den Verlauf der Revolution von 1848 in Preußen deshalb auf die Formel, daß man in ihr „eine Aktion der Rheinlande und eine Reaktion der alten Provinzen gegen sie sehen“ könne. Im März 1848 war im Rheinland der erste Ruf nach politischer Neugestaltung in der preußischen Monarchie erschollen. Die Konterrevolution ging demgegenüber vom agrarischen Osten Preußens aus. Die alten Gewalten hatten in der zweiten Hälfte des Jahres 1848 ihren Schwächeanfall überwunden. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der lange Zeit in merkwürdiger politischer Apathie das Geschehen verfolgt hatte, konnte sein ‘Kampfprogramm’ vom September 1848 gestützt auf Adel und Militär relativ erfolgreich gegen die preußische Nationalversammlung umsetzen. Die Vielzahl der Probleme und deren Unlösbarkeiten, wozu nicht zuletzt die unterschätzte Stärke der alten Mächte zu zählen ist, führten letztlich zum Scheitern der Revolution.
Die Revolutionsforschung hat immer wieder die Frage aufgeworfen, inwieweit die Revolution von 1848 in der Lage war, die politischen Einstellungen der Menschen im Sinne eines parlamentarischen Demokratismus zu verändern. Am Beispiel der rheinischen Städte möchte ich die Antwort geben, daß dies in einem relativ weitgehenden Sinne 1848/1849 gelungen war. Ein zeitgenössischer Beobachter kam am Beispiel der Stadt Köln zu dem Ergebnis: „Die Bildung, das Rechtsbewußtsein und die Forderungen gewinnen in den untersten Schichten des Volkes stündlich mehr und sicheren Boden... Das Volk hebt sich in der Bildung unter den obwaltenden Verhältnissen ungemein rasch...“
Aber auch der Verlauf der Revolution selbst wies charakteristische Eigentümlichkeiten auf. Im Unterschied zu Berlin, der preußischen Hauptstadt, wo die politischen Forderungen, die 1848 in Petitionen geäußert wurden, zunächst eine nur geringe Bedeutung spielten, stand am Rhein das Ringen um politische Forderungen von Anfang an im Vordergrund. In den turbulenten Volksversammlungen wurde am Rhein immer wieder über die Definition der politischen Ziele diskutiert und heftig gestritten. Zeitgenossen bemerkten deshalb manchmal spöttisch, die rheinische Revolution habe sich im „Adressen-Fabricieren“ erschöpft. Das Besondere der rheinischen Revolution war nicht der nicht stattgefundene allgemeine Aufstand. Denn auch in Süddeutschland scheiterten 1848 die republikanischen Aufstände an der mangelnden Unterstützung durch die Bevölkerung. Das Besondere war die politische Revolutionskultur und die Brücken, die sie in der Lage war, zur spontanen Revolution herzustellen. Hier scheint ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Revolution von 1848 im Rheinland zu liegen.
Nach der Revolution war nichts mehr so wie vorher. Preußen blieb ein Verfassungsstaat, auch wenn Friedrich Wilhelm IV. alles tat, um die Verfassung auszuhöhlen und zu umgehen. Das Rheinland erlebte einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung. Aber die liberal-demokratischen Verfassungshoffnungen blieben auch in der Folgezeit, in der ‘Neuen Ära’ sowie bei der Bildung des Deutschen Kaiserreichs und der Herstellung der klein-deutschen Einheit im Jahre 1871 – nach dem Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg – erneut auf der Strecke. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund verdienen die Leistungen und zahlreichen Anstöße der Achtundvierziger unseren Respekt. Sie kämpften für zentrale Prinzipien, auf die sich auch unsere heutige politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung beruft.
Soweit sich die Zitate auf Köln beziehen, verweise ich auf mein Buch: 1848/49 – Revolution in Köln, Köln 1998, für alle sozialstatistischen Angaben und zum politischen Katholizismus auf meine Studie: Städtische Gesellschaft und katholische Vereine im Rheinland 1840-1870, Essen 1996.
Die Beschreibung Wesendoncks findet sich bei Hugo Wesendonck: Erinnerungen aus dem Jahre 1848, New York 1898, S. 3. Für den Hinweis auf diese Erinnerungen danke ich Herrn Dr. Hans Pelger, Karl-Marx-Haus Trier.
Zur „institutionellen“ und „spontanen“ Revolution vergl. Dieter Langewiesche: Revolution in Deutschland. Verfassungsstaat – Nationalstaat – Gesellschaftsreform, in: Ders. sowie Dieter Dowe u. Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 167-195, v.a. S. 186ff. Dieter Langewiesche: Die Revolution von 1847/49. Forschungsstand und Forschungsdiskussion, in: 150 Jahre Deutsche Revolution. Ergebnisse des Offenburger Kolloquiums vom 8. Oktober 1993, Offenburg 1994, S. 25ff. Ders.: Die Revolution von 1848/49 im europäischen Kontext. Bermerkungen zu einer Regional- und Lokalforschung in vorgleichender Absicht, in: Ders. (Hg.): Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S. 185-194, Zitat S. 191. Vgl. ferner Manfred Gailus: Strasse und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göttingen 1990. Rüdiger Hachtmann: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997.
Zu Krefeld vgl. Peter Kriedte: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1991, Zitate S. 390 u. 362. Das Zitat „nach Mainzer Manier“ findet sich in Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd. 2/2, bearb. v. Heinz Boberach, Köln/Bonn 1976, S. 419. Zu den Aussagen Schultes vgl. Wilhelm Schulte: Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Münster 1954, S. 16. Der Bericht über die Elberfelder Vereinsversammlung wird hier zitiert nach Eberhard Illner: Bürgerliche Organisierung in Elberfeld 1775-1850. Neustadt/Aisch 1982, S. 151. Das Trierer Zitat wird nachgewiesen bei Jürgen Herres: Demokratische Vereinsbildung als Gesellschaftsreform. Zum politischen Parteiwesen in Trier 1848-1851, in: Elisabeth Dühr (Hg.): „Der schlimmste Punkt in der Provinz“. Demokratische Revolution 1848/49 in Trier und Umgebung, Trier 1998. Die Aussage Sperbers findet sich in Jonathan Sperber: Rhineland Radicals. The democratic Movement and the Revolution of 1848-1849, Princeton 1991, S. 473. Zur regionalen Dimension der Revolution von 1848 vgl. Heinrich Best: Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49, Düsseldorf 1990, sowie ders.: Politische Regionen in Deutschland. Historische (Dis-)Kontinuitäten, in: Dieter Oberndörfer u. Karl Schmitt (Hg.): Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 39-64.