Karl Marx' Imperialismuskritik: Außenpolitik als Klassenkampf


Copyright © 2002 by Jürgen Herres. Veröffentlichung in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 44, 21.02.2002, Seite 47.

Mit achtundvierzig Jahren stellte Karl Marx einen bemerkenswerten Wunschzettel zum Jahreswechsel auf: "Möge der Teufel Russen, Preußen, Bonaparte und den British Juryman holen!" Die Preußen kommen zwar nur an zweiter Stelle vor, aber immerhin in prominenter Gesellschaft mit dem British Juryman, Synonym für seine zum Alltag gewordenen Schulden, und Napoleon III., dem letzten Kaiser der Franzosen und Neffen Napoleons I.

Selten hat der aus einer jüdischen Rabbinerfamilie stammende und 1818 im rheinpreußischen Trier geborene Karl Marx eine Gelegenheit ausgelassen, Spott über Preußen auszugießen oder Haßtiraden gegen die Hohenzollern in seine Schriften einzuflechten. Er wetterte gegen die "Scheißfürsten" und die "Lauspreußen". Gnade fanden vor Marx nur Friedrich II. - in ihm sah er den "einzigen großen Mann, den die Hohenzollern seit ihrem Avancement zum Königsorden geliefert" hätten - und Bismarck. Mit der Reichseinigung wurde für Marx aus dem "Esel" Bismarck und aus "Pißmarck" der deutsche Bonaparte, der eine Revolution exekutierte, die die deutschen Revolutionäre nicht hatten machen können.

Marx' Preußenkritik wird fast immer einseitig als kritische Ablehnung der preußischen Innenpolitik nacherzählt und damit um einen zentralen Aspekt beschnitten. Marx ging davon aus, daß die Geschichte und Politik Preußens auf das engste mit dem imperialen Machtaufstieg Rußlands zusammenhing, weshalb er in dem zitierten Wunschzettel Rußland an erster Stelle aufzählte. In der DDR bestimmte bis in die siebziger Jahre eine sowjetische Broschüre von 1942 mit dem Titel "Marx und Engels über das reaktionäre Preußentum" das Bild. Die dort vorgezeichnete völlige Ablehnung Preußens sollte den offiziellen Antifaschismus der DDR zusätzlich legitimieren. Selbst in der Erbedebatte, in der sich Anfang der achtziger Jahre eine differenziertere Sicht Preußens in der DDR-Forschung durchsetzte, blieb die von Marx behauptete Rußland-Hörigkeit Preußens unerörtert.

Wie sich 1870 zeigte, war der Geburtsrheinländer Marx nur allzugern bereit, über die innenpolitischen Mängel Preußens hinwegzusehen, wenn es sich denn aus der russischen Abhängigkeit lösen und nicht mehr "russische ,Hinterlage'" sein wollte.

Es war vor den Toren Berlins, daß Marx im Sommer 1837 seine Wende zu Hegel nahm und Junghegelianer wurde. Hegel hatte gelehrt, daß sich der Fortschritt der Menschheit durch den Staat vollziehe. Der Staat sei das an und für sich Vernünftige. Die jungen Hegelianer setzten sich zum Ziel, die Lehre ihres Meisters von allem zu reinigen, was der Vernunft entgegenstand. Ihre Kritik wandte sich gegen die Religion, die ihnen eine Herausforderung der modernen, wissenschaftlichen Vernunft zu sein schien. Damit gerieten sie aber rasch in Konflikt mit dem preußischen Staat, der sich als Verteidiger des Protestantismus verstand. Der junge Karl Marx wurde sogar zu einem der radikalsten Entthroner Gottes.

Nachdem er die Hoffnung auf eine Universitätskarriere aufgegeben hatte, erregte er als vierundzwanzigjähriger Journalist mit seinen Artikeln in der Kölner "Rheinischen Zeitung" gegen das "geheime Staatswesen" in Preußen Aufsehen. Er forderte, "das mysteriöse priesterliche Wesen des Staates" solle "in das Fleisch und Blut der Staatsbürger" verwandelt werden. Der "vormarxistische" Marx steht für eine ganze Generation, die sich über die Kritik der Religion politisierte. Im Staat sah Marx die Verkörperung der Sittlichkeit. Seinen idealisierten Staat leitete er nicht aus Naturrechtsauffassungen her, nicht aus der Verteidigung der Rechte des einzelnen, sondern - nach Hegels Vorbild - aus der allgemeinen Vernunft.

Nach 1843 ging Marx nach Paris und warf Preußen seine Staatsangehörigkeit vor die Füße. Mit Ausbruch der Revolution von 1848 nahm Marx um so unerbittlicher die "reaktionäre" und "rußlandhörige" Politik Preußens ins Visier. In seiner in Köln erscheinenden "Neuen Rheinischen Zeitung" bezeichnete er die preußische Revolution als "die verkümmerte Nachwirkung einer europäischen Revolution in einem zurückgebliebenen Lande". Sie sei nicht einmal deutsch, sondern von vornherein provinziell-preußisch. Wo er dies konnte, stellte er jetzt Preußen und Deutschland als Gegensatz heraus. Friedrich Engels forderte in der Zeitung den Bruch zwischen Preußen und Deutschland und bezeichnete den Zerfall Preußens als Vorbedingung für "die wirkliche Einheit Deutschlands". Bei aller Kritik sah er aber auch deutlich die Veränderungen: Durch seine "ganze industrielle Entwicklung, seine permanente Staatsschuld" sei Preußen "so bürgerlich" geworden, daß es der Verfassungsstaatlichkeit trotz allen Windens und Sträubens immer unrettbarer verfallen sei.

Für Marx' Preußen-Bild spielte die Abhängigkeit von Rußland eine zentrale Rolle. In den Befreiungskriegen gegen Napoleon noch gefeiert, war Rußland nach 1815 rasch zum Schreckgespenst aller westlichen Liberalen geworden. In ihren Augen war Rußland der Hort der Reaktion, der jede Reform und Neuordnung Europas unmöglich machte. Bereits als Chefredakteur der "Rheinischen Zeitung" nahm Marx 1842 und 1843 mehrere Artikel gegen die Russifizierungspolitik in Polen auf. Die Befreiung des geteilten Polen blieb für Marx lebenslang untrennbar mit der Sache der Revolution verbunden. Im Revolutionsjahr 1848 war Marx sogar überzeugt, daß ein Krieg gegen Rußland der beste Schlag sei, der im Namen der europäischen Freiheit geführt werden könne. Es stand für ihn fest: "Wenn die Preußen mit den Russen, werden die Deutschen sich mit den Franzosen alliieren und mit ihnen vereint den Krieg des Westens gegen den Osten, der Zivilisation gegen die Barbarei, der Republik gegen die Autokratie führen." Der Krieg gegen Rußland erhielt für Marx einen geradezu sakralen Charakter (Werner Conze). So schrieb er im Juli: "Nur der Krieg mit Rußland ist ein Krieg des revolutionären Deutschlands, ein Krieg, worin es die Sünden der Vergangenheit abwaschen kann."

Die von Marx obsessiv betriebene Auseinandersetzung mit Rußland wurde Grundlage seiner weltpolitischen Sicht und seiner Kritik der Politik der großen Mächte. Als 1863 erneut ein polnischer Aufstand losbrach und Preußen sich verpflichtete, die russischen Truppen zu unterstützen, beschlossen Marx und Engels, gegen Preußen eine Kampfschrift zu veröffentlichen, die Marx wegen Krankheit nicht abschließen konnte. Als man 1980 in der DDR an die Veröffentlichung der Entwürfe von Marx ging, wurde deren Drucklegung nach den Erfolgen von Solidarnosc auf Geheiß Moskaus gestoppt. In diesen Manuskripten versuchte Marx erstmals ein umfassendes Bild der Geschichte und Politik Preußens zu zeichnen.

Während die Geschichte Österreichs immerhin "ein diabolisches Epos" sei, entbehrte seiner Meinung nach Preußen jedes geschichtlich großen Zuges. Preußen sei nur groß geworden als "Schakal Rußlands" und "als russischer Komplize in der Plünderung wehrlos gewordener Nachbarn". An Engels schrieb er im März 1863: "Die politische Pointe, zu der ich gelangt bin, ist die: Der ,Staat' Preußen ist eine von Deutschland sehr verschiedne Kreatur." Dieser Staat kann "nicht ohne das bisherige Rußland und nicht mit einem selbständigen Polen existieren". Da aber die Existenz Polens für Deutschland nötig sei, müsse also "dieser Staat Preußen wegradiert werden".

Das von Marx gezeichnete Bild überrascht nicht so sehr, weil es einseitig und parteiisch ist, sondern vielmehr, weil jede Klassenkampfrhetorik fehlt. Marx sah in Preußen einen Staat, der sich von Rußland hatte einspannen lassen, um Polen und damit auch Deutschland niederzuhalten. Er kritisierte damit eine Politik, die der Berliner Osteuropa-Historiker Klaus Zernack "negative Polenpolitik" nennt.

Bis 1866 lehnte Marx jeden Machtzuwachs Preußens ab. In der Ersten Internationale, die 1864 in London gegründet worden war, trat Marx für eine republikanische und internationalistische Politik der Arbeiter ein. Als der preußisch-österreichische Krieg 1866 ausbrach, vermutete Marx im Hintergrund Rußland als Drahtzieher. Nach dem preußischen Sieg bei Königgrätz zollten Marx und Engels Bismarck als erfolgreichem Machtpolitiker Respekt. Sie sahen in Bismarck einen bonapartistischen Halbdiktator, der ein Stück ihrer Arbeit tue, "in seiner Weise und ohne es zu wollen", wie Engels im August 1870 an Marx schrieb. Später nannte Engels Bismarck sogar einen "königlich preußischen Revolutionär", einen "preußischen Revolutionär von oben".

Als 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach und Preußen die Truppen Napoleons III. erfolgreich schlug, kam der unterschwellig bei Marx und Engels vorhandene Nationalstolz zum Tragen. "Die Franzosen brauchen Prügel", schrieb Marx. Eine Zeitlang hegte Marx die Hoffnung, Europa könne nun, trotz aller von Rußland ausgehenden Gefahren, eine friedliche Entwicklung vollziehen und die soziale Revolution vorbereiten. Innenpolitisch war Marx sogar bereit, eine parlamentarische Diktatur Bismarcks hinzunehmen.

Als Preußen trotz der Gefangennahme Napoleons III. den Krieg weiterführte, wurde für Marx aus dem "Verteidigungskrieg" ein "Expansionskrieg". Mit der Internationale unterstützte er nun die neue Republik in Frankreich und wünschte das Eingreifen Englands. Von Anfang an lehnte Marx die Annexion von Elsaß und Lothringen ab. Sie sei das größte Unglück und ein zukünftiger großer europäischer Krieg dann unvermeidlich. Die eigentliche Ursache für die Fortsetzung des Kriegs sah er in den dynastischen Interessen der Hohenzollern und deren Abhängigkeit von Rußland.

Durch die Ablehnung der Annexion von Elsaß und Lothringen wie der "negativen Polenpolitik" der Ostmächte Rußland und Preußen hatte Marx' Preußenkritik eine bedenkenswert europäische Dimension. Marx war in seinen politischen Anschauungen mithin durch Preußen und seine Fixierung auf Preußens Rolle in Deutschland stärker geprägt, als dies gemeinhin angenommen wird und auch als er selbst bestimmt wahrhaben wollte.